Die Wissenschaft der Wahrnehmung: Wie wir uns selbst und andere sehen
- Isabella Matthies
- Nov 3, 2024
- 6 min read
Alles, was uns an anderen ärgert, kann uns zu einem besseren Verständnis unserer selbst führen. - Carl Gustav Jung
Als ich kürzlich durch meinen Social Media Feed scrollte, habe ich zufällig einen Spruch aus dem Bereich der menschlichen Interaktion entdeckt, welcher mit mir - aufgrund vergangener Ereignisse - resonierte: "Menschen sehen Dich nicht so, wie Du (wirklich) bist, sondern so, wie sie sind."
Diese Aussage, obwohl scheinbar einfach, umfasst ein komplexes Zusammenspiel psychologischer und neurologischer Prozesse, die unsere Wahrnehmung und somit auch unser Empfinden und folglich unsere Reaktion auf das Verhalten Anderer prägen. Ist das nicht spannend?
Lasst uns daher einmal die Wissenschaft hinter diesem Phänomen betrachten und die Auswirkungen auf uns und unser Verhalten näher erforschen.
Die Neurowissenschaft der Wahrnehmung
Das menschliche Gehirn verlässt sich bei der Interpretation neuer Informationen stark auf vergangene Erfahrungen und bestehende neuronale Bahnen, um die große Menge an sensorischen Eingaben zu verarbeiten.
Spiegelneuronen: Die Entdeckung von Spiegelneuronen in den 1990er Jahren hat unser Verständnis davon, wie wir andere wahrnehmen und verstehen, revolutioniert. Diese Neuronen “feuern” sowohl, wenn wir selbst eine Handlung ausführen, als auch wenn wir jemand anderen bei der gleichen Handlung beobachten. Diese neurologische Spiegelung könnte zu unserer Tendenz beitragen, unsere eigenen Erfahrungen auf andere zu projizieren [1].
Prädiktive Verarbeitung: Neuere Forschungen unterstützen die Theorie der prädiktiven Verarbeitung. Unser Gehirn generiert ständig Vorhersagen über die Welt, einschließlich des Verhaltens anderer Menschen. Diese Vorhersagen basieren auf unseren früheren Erfahrungen und Überzeugungen, was zu verzerrten Wahrnehmungen führen kann [2].
Psychologische Faktoren die unsere Wahrnehmung beeinflussen
1. Projektion und Motivation
Projektion ist ein lange bekannter psychologischer (Abwehr-)Mechanismus, welcher ursprünglich von Sigmund Freud beschrieben wurde. Er tritt auf, wenn Personen eigene Gedanken, Gefühle oder Impulse anderen Menschen zuschreiben, weil sie diese selbst nur schwer annehmen können. Dies kann auf bewusst oder unbewusst wahrgenommene Eigenschaften oder Emotionen zurückzuführen sein, die man selbst ablehnt oder verdrängt. Ein einfaches Beispiel: Jemand, der sich insgeheim feindselig fühlt, aber diesen Gefühlen nicht gegenübertreten will, könnte anderen Menschen feindselige Absichten unterstellen.
Projektion spielt eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung, da sie beeinflussen kann, wie wir andere Menschen und ihre Handlungen interpretieren. Wenn wir beispielsweise negative Gefühle wie Wut auf andere projizieren, nehmen wir möglicherweise ihre Verhaltensweisen feindseliger wahr als sie tatsächlich sind. Dies kann zu Missverständnissen und sozialem Stress führen, da unsere Wahrnehmung durch unsere eigenen verdrängten oder ungeklärten Gefühle gefärbt wird.
Darüber hinaus haben Forschungen gezeigt, dass Motivation ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Kontrolle von verzerrten Reaktionen spielt. Dabei unterscheidet man typischerweise zwischen zwei Hauptarten von Motivation:
Interne Motivation: Sie bezieht sich auf persönliche Überzeugungen und Werte.
Externe Motivation: Diese Art der Motivation bezieht sich auf äußere Einflüsse wie soziale Normen oder den Wunsch, von anderen akzeptiert zu werden.
In der Studie von Devine et al. (2002) zeigte sich, dass diese beiden Motivationsarten Vorurteile unterschiedlich beeinflussen können:
Explizite Vorurteile (bewusste Vorurteile): Diese lassen sich oft durch interne Motivation mäßigen. Menschen, die sich stark für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung einsetzen, sind oft in der Lage, ihre bewussten Vorurteile unter Kontrolle zu halten.
Implizite Vorurteile (unbewusste Vorurteile): Sie werden durch ein Zusammenspiel von interner und externer Motivation beeinflusst. Interne Motivation kann implizite Vorurteile teilweise dämpfen, doch externe Motivation hilft, diese weiter zu verringern, insbesondere in sozialen Kontexten, in denen es normativ erwünscht ist, vorurteilsfrei zu handeln.
2. Bestätigungsfehler und kognitive Belastung (aka Stress)
Der Bestätigungsfehler (“Confirmation Bias”) führt dazu, dass wir Informationen suchen und interpretieren, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen. Neuere Studien haben gezeigt, dass kognitive Belastung diesen Effekt verstärken kann. Payne (2006) fand heraus, dass kognitive Überlastung zu erhöhten Vorurteilen führt, was er auf die verminderte Kontrolle der Individuen über ihre Reaktionen aufgrund mangelnder kognitiver Ressourcen zurückführte [4].
Note: Einer der Punke warum aktives Stressmanagement so wichtig ist (Kognition & Entscheidungsfindung) s. auch Podcast
3. Einfluss des emotionalen Zustands
Unser aktueller emotionaler Zustand beeinflusst erheblich, wie wir andere wahrnehmen. Eine Studie von Schmid und Mast (2010) zeigte, dass Personen in positiver Stimmung eher dazu neigten, neutrale Gesichtsausdrücke als glücklich zu interpretieren, während diejenigen in negativer Stimmung sie eher als traurig oder wütend interpretierten [5].
Kulturelle und soziale Konditionierung
Kulturanthropologen erkennen seit langem die Rolle der Kultur bei der Formung der Wahrnehmung. Unser kultureller Hintergrund bietet einen Rahmen, durch den wir die Welt und das Verhalten anderer interpretieren.
Eine Studie von Markus und Kitayama (1991) fand signifikante Unterschiede darin, wie Individuen aus kollektivistischen versus individualistischen Kulturen die gleichen sozialen Szenarien interpretierten [6]. Diese Erkenntnis unterstreicht die Bedeutung des kulturellen Kontexts für unsere Wahrnehmung anderer.
Gruppenzugehörigkeit und Identität
Neuere Forschungen haben die Rolle der Gruppenzugehörigkeit und Identität bei der Wahrnehmung anderer untersucht. Gemäß der Sozialen Identitätstheorie von Tajfel und Turner definieren wir uns selbst nicht nur als Individuen, sondern auch durch die Mitgliedschaft in bestimmten sozialen Gruppen. Diese Gruppen können kulturell, religiös, sportlich, beruflich oder auf viele andere Arten sein. Wenn wir uns als Mitglied einer Gruppe identifizieren, sehen wir uns selbst oft als Vertreter dieser Gruppe und tendieren dazu, die Werte und Normen dieser Gruppe zu internalisieren. Simon und Gutsell (2020) verwendeten das minimale Gruppenparadigma und fanden heraus, dass selbst bei willkürlich geschaffenen Gruppen die Kenntnis der Gruppenzugehörigkeit dazu führte, dass Teilnehmer ihre Ingroup-Mitglieder humanisierten und implizite Voreingenommenheit zu ihren Gunsten zeigten [7].
Gruppenidentität beeinflusst daher unsere Wahrnehmung, indem sie unser Selbstkonzept und unser Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft formt. Die Gruppenidentität verstärkt die Tendenz zur Ingroup-Begünstigung, da wir ein positives Bild unserer eigenen Gruppe (und damit indirekt auch unserer eigenen Identität) aufrechterhalten wollen. Studien zeigen, dass wir unsere Gruppe bevorzugen und schützen, auch wenn keine tiefere Bindung zu den einzelnen Mitgliedern besteht. Dieses psychologische Phänomen, das als Ingroup Bias bezeichnet wird, beeinflusst tiefgehend, wie wir Informationen über andere Menschen verarbeiten und wie wir auf diese reagieren.
Implikationen und Anwendungen
Das Verständnis der subjektiven Natur der Wahrnehmung hat tiefgreifende Auswirkungen auf verschiedene Bereiche:
Psychische Gesundheit: Die Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung nicht immer die Realität widerspiegelt, kann ein mächtiges Werkzeug in der kognitiven Verhaltenstherapie sein und Individuen helfen, negative Denkmuster herauszufordern und umzugestalten.
Konfliktlösung: Bei Mediation und Konfliktlösung kann die Anerkennung der Rolle der subjektiven Wahrnehmung zu empathischerer und effektiverer Problemlösung führen.
Führung und Management: Führungskräfte, die dieses Konzept verstehen, können inklusivere Arbeitsumgebungen schaffen, indem sie ihre eigenen Vorurteile erkennen und mildern.
Bildung: Im Bildungsbereich haben Studien gezeigt, dass implizite Vorurteile von Lehrern die Leistungserwartungen und Disziplinarmaßnahmen beeinflussen können. Anyon et al. (2018) argumentierten, dass es notwendig ist, spezifische Schulumgebungen als systemischen Faktor zu untersuchen, der Diskrepanzen in der Disziplin schafft [8].
Bewusstsein kultivieren
Obwohl wir unsere subjektiven Vorurteile nicht vollständig beseitigen können, können wir an unserer Wahrnehmungen aktiv arbeiten:
Achtsamkeit üben: Achtsamkeitsmeditation hat nachweislich das Selbstbewusstsein (sich seiner selbst bewusst sein, nicht ego) erhöht und kognitive Verzerrungen reduziert.
Vielfältige Perspektiven suchen: Die aktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Standpunkten kann unser Verständnis erweitern und unsere vorgefassten Meinungen herausfordern.
Regelmäßige Selbstreflexion: Sich Zeit zu nehmen, um eigene Gedanken, Gefühle und Reaktionen zu untersuchen, kann uns helfen zu erkennen, wann wir möglicherweise projizieren oder andere falsch interpretieren. Wodurch wir lernen angemessener zu reagieren.
Perspektivenübernahme: Kang und Falk (2020) fanden heraus, dass Interventionen, die die Fähigkeit trainieren, Rückschlüsse auf die mentalen Zustände anderer zu ziehen, implizite Vorurteile reduzieren können [9].
Fazit
Der Aussage im Bild ist mehr als nur eine kluge Beobachtung - es ist eine wissenschaftlich unterstützte Einsicht in menschliche Kognition und Verhalten. Indem wir die komplexen Faktoren verstehen, die unsere Wahrnehmungen formen, können wir nach authentischeren Verbindungen und einem klareren Verständnis von uns selbst und anderen streben.
Während wir unsere persönlichen und beruflichen Beziehungen gestalten, sollte uns dieses Wissen daran erinnern, jede Interaktion mit offenem Geist anzugehen, bereit, über unsere eigenen Reflexionen hinauszusehen und wirklich mit der Person vor uns in Verbindung zu treten.
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Quellen
[1] Rizzolatti, G., & Craighero, L. (2004). The mirror-neuron system. Annual Review of Neuroscience, 27, 169-192.
[2] Clark, A. (2013). Whatever next? Predictive brains, situated agents, and the future of cognitive science. Behavioral and Brain Sciences, 36(3), 181-204.
[3] Devine, P. G., Plant, E. A., Amodio, D. M., Harmon-Jones, E., & Vance, S. L. (2002). The regulation of explicit and implicit race bias: The role of motivations to respond without prejudice. Journal of Personality and Social Psychology, 82(5), 835-848.
[4] Payne, B. K. (2006). Weapon bias: Split-second decisions and unintended stereotyping. Current Directions in Psychological Science, 15(6), 287-291.
[5] Schmid, P. C., & Mast, M. S. (2010). Mood effects on emotion recognition. Motivation and Emotion, 34(3), 288-292.
Guter Artikel und angenehm zu lesen